Solidarisch gegen den Herbst der Reformen

Der nachfolgende Text ist eine Rede, die zu unserem Infostand am 30.09. gehalten wurde.

Arbeitslos sein und werden ist für viele Menschen das Worst-Case-Scenario. Eigentlich nicht überraschend: Politiker:innen und Medien hetzen gegen Arbeitslose und selbst in den weniger feindlich gesinnten Berichten geht es nur um das Elend der Arbeitslosigkeit und wie sie bekämpft werden kann.

Vollbeschäftigung ist das Ziel am Horizont. Ein Ziel, das jeder Person, die schon mal mit Sachbearbeiter:innen in Kontakt waren, auch gleich eingehämmert wird, als wären die eigenen Interessen deckungsgleich mit denen der „deutschen Wirtschaft“. Dabei ist eigentlich klar, dass das nicht realistisch sein kann. Im August 2025 gab es mehr als 3 Millionen Arbeitslose in Deutschland [1] und 631.000 freie Stellen [2]. Was wird also mit dem Rest gemacht?

Ein beliebter Trick sind sinnlose Maßnahmen und 1-Euro-Jobs, damit die Menschen aus der Arbeitslosenstatistik verschwinden. Aber natürlich wird es niemals möglich sein, alle Arbeitslosen gleichzeitig in Maßnahmen oder Jobs im Niedriglohnsektor zu zwängen. Das ist auch nicht der Plan. Es braucht Arbeitslose, denn wenn alle arbeiten, wer soll dann neu entstandene Stellen füllen, wenn ein Unternehmen gegründet wird oder sich vergrößert? Und wenn die Angst vor Arbeitslosigkeit nicht immer im Hintergrund schwelt, was soll die Menschen davon abhalten, sich gegen beschissene Arbeitsverhältnisse zu wehren oder gleich zu kündigen?

Trotzdem wird das Schauspiel der Vollbeschäftigung weitergespielt. Wir können nicht zugeben, dass es weder möglich noch erstrebenswert ist, alle in Arbeit zu stecken. Arbeitslosigkeit darf nicht als normaler Bestandteil des Lebens akzeptiert werden, sie muss die mit Scham behaftete Ausnahme bleiben.

Arbeitslose haben noch eine weitere praktische Funktion: Wir sind die „Anderen“, abseits stehend von der normalen Gesellschaft. Das ist auch kein Wunder, denn es ist in den meisten Kreisen tabu, arbeitslos zu sein und sich nicht wenigstens dafür zu schämen. Unsere Randständigkeit hat auch noch eine andere Ursache: Teilnahme am öffentlichen Leben kostet Geld. Fahrtkosten an den Ort unserer Wahl, Geld für den Besuch einer Imbissbude oder Eintritt in Clubs, Konzerte oder Museen.

Viele negativen Vorurteile haben wir auch verinnerlicht. Wir kennen diese Momente, wenn sich alle mit Namen und Beruf vorstellen, als gäbe es nichts Wichtigeres im Leben, und wir uns ein bisschen schämen oder versuchen, das mit einem Witz zu überspielen. Oder wenn wir auf Fragen über unsere vermeintliche berufliche Zukunft von Freund:innen und Familie nur ausweichend reagieren.

Wir können schön als Sündenböcke herhalten, wenn mal wieder alles den Bach runtergeht und es gibt keinen Aufschrei, wenn wir gegängelt werden. Im kommenden „Herbst der Reformen“, wie ihn die Bundesregierung betitelt hat, soll wieder härter gegen sogenannte Totalverweiger:innen und Schwarzarbeiter:innen vorgegangen werden. Alles, was den Meisten dazu einfällt, ist, dass die Quote an Totalverweiger:innen sowieso total niedrig ist und sich ein Vorgehen gegen sie nicht wirklich lohnt, um die „Lücken im Haushalt zu schließen.“

Mir ist egal, ob der Haushalt der deutschen Regierung, der gerne als „unser Haushalt“ bezeichnet wird, davon profitieren würde, Menschen zu sanktionieren, die keinen Bock darauf haben, den Großteil ihrer wachen Zeit damit zu verbringen, ihre Chef:innen reicher zu machen oder Stadt und Staat aufrechtzuerhalten. Ich bin gegen Zwangsarbeit, auch wenn sie als Zuckerbrot UND Peitsche daherkommt. Menschen haben ein schönes Leben verdient, auch wenn sie keinen gesellschaftlichen Standards der Nützlichkeit entsprechen.

Diese obsessive Suche nach der Nützlichkeit finden wir überall: Wenn im Gesundheitswesen Rehas danach verteilt werden, wie wahrscheinlich die Menschen danach wieder arbeiten können. Wenn Menschen ohne deutschen Pass nur eine Aufenthaltserlaubnis bekommen, wenn sie arbeiten. Oder wenn von Politiker:innen kritisiert wird, dass das 9-Euro-Ticket mehr für die Freizeitgestaltung als fürs Pendeln zur Arbeit genutzt wurde.

Die meisten Leute quälen sich jeden Tag zur Arbeit und können sich ein Leben ohne gar nicht mehr vorstellen. Wie viele Leute verfallen in Verzweiflung, wenn sie aufgrund von Gesundheit oder Alter nicht mehr arbeiten können? Wenn die Identität und das Selbstbewusstsein so sehr an den Job und die vermeintliche Nützlichkeit gekoppelt sind, kann Arbeitslosigkeit nur schrecklich wirken. Auch im Kleinen lässt sich das beobachten: Ich kenne so viele Menschen, die selbst im Urlaub fertig sind, weil sie auf einmal nicht mehr wissen, wer sie sind und was sie tun sollen.

Aber wie schlimm ist das Leben in Arbeitslosigkeit wirklich? Das kommt auf viele Faktoren an: Reicht der Regelsatz, um über die Runden zu kommen oder haben wir Ausgaben, die davon nicht gedeckt werden? Müssen wir uns zusätzlich um Kinder, Verwandte, Tiere oder Freund:innen kümmern? Haben wir Krankheiten oder Behinderungen, deren Behandlung nicht übernommen werden? Haben wir Süchte wie nach Alkohol oder Zigaretten? Wie oft wollen wir am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und dabei zwangsläufig Geld ausgeben?

Verstehen wir die dutzenden Anträge im Beamt:innendeutsch und schaffen es, sie fristgerecht einzureichen? Wie sehen die Menschen in unserem Umfeld unsere Arbeitslosigkeit? Können wir ehrlich mit ihnen darüber sprechen? Helfen wir uns gegenseitig bei unseren Problemen, indem wir uns beim Stellen der Anträge helfen oder uns gegenseitig zum Einkaufen oder zu Terminen begleiten?

Es ist leicht, sich alleine zu fühlen, wenn wir einen Brief mit dem verhassten Termin bekommen, wenn wir durch die Eingangskontrollen gehen und durch das Labyrinth der unzähligen gleich aussehenden Türen den Raum aufsuchen, in dem wir Rede und Antwort stehen müssen: Warum wir immer noch keinen Job gefunden oder genug Bewerbungen geschrieben haben.

Dabei treten jeden Tag hunderte andere Leute in genau unserer Situation durch diese Türen! Wir müssen nicht vereinzelt bleiben, wir müssen nicht einfach abwarten, auf welche Art und Weise die Regierung unser Leben als nächstes erschweren will. Wir müssen nur die Vereinzelung durchbrechen, aufeinander zugehen und uns zusammentun, um etwas zu ändern!

Deshalb hier die Einladung: Jeden ersten und dritten Mittwoch im Monat gibt es um 12 Uhr unser Hartz Café und anschließend um 14 Uhr die Rechtsberatung mit Fokus auf Bürgergeld. Wir treffen uns im Black Pigeon in der Scharnhorststr. 50. Kommt gerne vorbei, wenn ihr gemeinsam mit uns über unsere Probleme im Bezug reden wollt, egal ob ALG 1, 2, Bafög oder Rente. Wir tauschen uns über Tipps und Tricks im Umgang mit dem Jobcenter aus, bringen uns gegenseitig neue Skills bei oder planen Aktionen.

[1] https://www.arbeitsagentur.de/presse/2025-35-arbeitsmarkt-im-august-2025

[2] https://statistik.arbeitsagentur.de/DE/Navigation/Statistiken/Fachstatistiken/Gemeldete-Arbeitsstellen/Aktuelle-Eckwerte-Nav.html;jsessionid=5DCCB415EB04D288FD524E332CE22935

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